Wie entscheiden Manager? Starke Intuition und solides Erfahrungswissen werden bei Managern vorausgesetzt. Nicht bei allen Entscheidungen ist es aber richtig oder empfehlenswert, sich auf eine subjektive Meinung zu verlassen – so die Ansicht der Vertreter des evidenz-basierten Managements.
1. Was ist evidenzbasiertes Management?
Evidenz-basiertes Management (EbM) ist ein Managementansatz, der davor warnt, Best Practice-Beispiele zu imitieren, populäre Management-Mythen zu reproduzieren oder lediglich intuitiv und subjektiv begründeten Einschätzungen anzuhängen.
Statt verfügbaren Heuristiken, Traditionen oder Vorbildern zu folgen, empfiehlt das EbM in der Tradition des logischen Empirismus eine pragmatische Abkehr von allen durch Bias verzerrten, schablonenhaften Vorannahmen und rät dazu, bei Managemententscheidungen ausschließlich prüfbare Kriterien zugrunde zu legen. Die Vertreter des evidenzbasierten Managements fordern, organisationale Praktiken und Entscheidungen auf der Grundlage bestmöglicher Evidenz und wissenschaftlich validierter Erkenntnisse zu treffen. Idealerweise folgen Managemententscheidungen Praktiken, deren methodischer Erfolg bereits empirisch nachgewiesen wurde. In Deutschland wird das EbM mitunter auch als beweisgestützte Unternehmensführung bezeichnet.
2. Vorläufer, Entwicklung und Ziele des EbM
EbM ging aus dem Vorläufer-Konzept der evidenzbasierten Medizin hervor. Der Begriff der evidenzbasierten Medizin entwickelte sich in den 1990er Jahren. Er beschreibt den mittlerweile etablierten medizinischen Standard, bei der Behandlung von Patienten ausschließlich evidenzbasiert zu arbeiten: Der Nachweis der Wirksamkeit einer Therapie ist zu erbringen, bevor diese eingesetzt wird.
Genau wie jedes medizinische Vorgehen und das angestrebte Resultat in einem belegbaren Zusammenhang stehen muss und der konstatierte Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Behandlung und Heilung immer nachweisbar sein soll, fordert das EbM den Nachweis von Kausalzusammenhängen zwischen Maßnahmen und ihren Effekten für betriebliche Entscheidungsprozesse ein.
Durch den Rückgriff auf wissenschaftliche Daten will das evidenzbasierte Management die Verlässlichkeit und Effektivität der Entscheidungsfähigkeit verbessern und subjektive Entscheidungsschwächen und Fehlinterpretationen durch zufällige Korrelationseffekte bei Einzelbeobachtungen ausgleichen. EbM greift dazu auf experimentelle oder statistische Methoden zurück und setzt auf den Diskurs aller von Entscheidungen mitbetroffenen Stakeholder.
Die Forderung, wissenschaftliche Methoden auf Managementansätze anzuwenden, wurde in den USA federführend von den Ökonomen der Stanford University Jeffrey Pfeffer und Robert Sutton sowie Denise Rousseau, Professorin für Organizational Behaviour and Public Policy an der Carnegie Mellon University, eingebracht.
Sie gingen von der Annahme aus, dass im Unterschied zu Entscheidungsprozessen im medizinischen Bereich unternehmerische Entscheidungen vielfach nur unzureichend begründet und wissenschaftlich fundiert seien. Managemententscheidungen basierten häufig auf dem rein subjektiven Erfahrungswissen von Managern und folgten unhinterfragt Annahmen, die über veraltete oder populäre Managementliteratur verbreitet wurden. Die bis dato gängigen Managementansätze ließen eine systematische Recherche und Analyse relevanter wissenschaftlicher Studien weitestgehend außen vor. Die Analyse empirischer Studien gehörte nur selten zum Repertoire des Unternehmensmanagements.
Erhöhte Transparenz und Glaubwürdigkeit
Um die Glaubwürdigkeit, Transparenz und Objektivierbarkeit von Managemententscheidungen zu erhöhen, forderten die Vertreter des EbM, Entscheidungen anhand von Kriterien zu begründen, die durch Dritte empirisch verifizier- und nachvollziehbar sind.
Im Hinblick darauf, dass Entscheidungen des Managements in ihren Konsequenzen weit über den Horizont des Unternehmens hinausgehen und auf viele Stakeholder (Mitarbeiter, Kunden, Investoren) zurückwirken, verwiesen sie darauf, dass eine mangelhaft fundierte Entscheidungspraxis angesichts ihrer weitreichenden Folgen völlig unangemessen sei. Die EbM-Praktiker forderten ausdrücklich ein, auch die begründeten Überzeugungen der Stakeholder zu prüfen. Alle lang- oder kurzfristig von einer Entscheidung betroffenen Personengruppen nehmen bei der Entscheidungsfindung des EbM daher eine zentrale Rolle ein.
3. EbM in der Praxis – Das 6-Stufen-Modell der „Sechs As“
ASK: Fragen stellen
Das Thema oder die Problematik wird als möglichst konkrete Frage formuliert. Dabei wird auch die Relevanz des Problems kritisch hinterfragt. („Was ist der Beweis dafür, dass wir ein Problem mit unserem Logistikmanagement haben?“) Ein starkes Netzwerk aus Experten der beteiligten Fachgebiete hilft, am Feinschliff der Ausgangsfragestellung zu arbeiten.
ACQUIRE: Auffinden relevanten Daten aus unterschiedlichen Quellen und Datenbanken
Subjektive Erfahrungswerte und Überzeugungen werden tendenziell selten infrage gestellt. Es droht die Gefahr, bei der Suche nach Belegen selektiv vorzugehen und nur die Ergebnisse auszuwählen, mit der die eigene Überzeugung untermauert werden kann. Nur wer unterschiedliche Quellen zurate zieht und unterschiedliche Positionen zulässt, kann eine Situation aus unterschiedlichen Perspektiven einschätzen. Zu wichtigen Quellen für eine Entscheidungsfindung des Managements zählen:
- Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Forschung
- verlässliche und valide Daten der eigenen Organisation
- speziell in Auftrag gegebene Gutachten oder Umfragen
- relevante Daten der Stakeholder
APPRAISE: Kritische Beurteilung
Wie stark die Evidenz für eine Studie oder Analyse ist, lässt sich anhand eines Pyramidenmodells analysieren. An seiner Basis befinden sich bei Stufe 1 Expertenmeinungen, die als Einzelmeinungen im Vergleich von schwacher Evidenz sind. Ob es sich bei einer geäußerten Ansicht überhaupt um eine Expertenmeinung handelt, wird anhand der Sachkunde und Erfahrung des Meinungsträgers in einem bestimmten Bereich beurteilt.
Gängige wissenschaftliche Praxis ist, bei der Veröffentlichung von Studien sowohl die Relevanz als auch die Rigorosität der vorgelegten Analyse zu bewerten. Peer-Review-Verfahren, bei der renommierte Experten wissenschaftliche Veröffentlichungen kritisch gegenlesen und einschätzen, sollen es auch Laien ermöglichen, die vorgelegten Ergebnisse hinsichtlich ihrer „Rigorosität“, also der wissenschaftlichen Qualität und Exaktheit einer Arbeit, einordnen und hinterfragen zu können.
Auf der darüber liegenden Stufe 2 befinden sich einzelne Fallstudien oder einmalige Querschnittsanalysen, die methodisch korrekt durchgeführt wurden, aber für sich genommen nur eine Stichprobe darstellen. Auf Stufe 3 der Evidenz sind Längsschnittstudien einzuordnen, die stichprobenartig über einen längeren Zeitraum Daten erheben oder als Metaanalyse vorliegen. Um Beweiskraft der Stufe 4 zu erreichen, muss es sich bei der betrachteten Untersuchung um eine Studie handeln, bei der eine Kontrollgruppe eingesetzt wurde. In Stufe 5 wird zusätzlich ein randomisiertes Verfahren vorausgesetzt.
AGGREGATE: Verdichtung und Zusammenstellung
Die verfügbare Datenmenge muss auf die für die eigene Problemstellung relevanten Fakten reduziert und die externe und interne Evidenz in einen Zusammenhang gesetzt werden. EbM bedient sich dabei den allgemeinen, durch wissenschaftliche Verfahren gewonnenen Erkenntnissen und führt sie mit unternehmensspezifischen Fakten zusammen.
Idealerweise lassen sich die verfügbaren Daten in Linkage-Analysen verknüpfen, auf deren Grundlage evidenzbasierte Entscheidungen getroffen werden können, die auf validen Daten beruhen und das Unternehmen mit seiner spezifischen Problemlage abbilden.
APPLY: Anwendung
Verfügbare Analysen, Daten oder Studien müssen dahingehend hinterfragt werden, ob sie hinsichtlich der spezifischen Fragestellung des Unternehmens Antworten liefern oder ob sich die Ergebnisse nicht durch die individuelle Situation vor Ort ganz anders darstellen würden.
Beispielsweise werden Experimente zum Korrumpierungseffekt intrinsischer Motivation an Vorschulkindern kaum direkte Rückschlüsse darauf zulassen, ob sich Anreize durch leistungsorientierte Prämien in einem Betrieb langfristig als förderlich erweisen.
Betriebsinterne Umfragen und Analysen, beispielsweise zur Mitarbeiterzufriedenheit oder der Arbeitssicherheit, geben konkrete Auskunft über die Faktenlage vor Ort. Die verfügbaren, unternehmensspezifischen Zahlen – beispielsweise die zur Mitarbeiterfluktuation, Cost-per-Hire, Leistungskennzahlen, Krankenstand – sind stets in einen größeren, betriebs- und branchenübergreifenden Zusammenhang zu setzen. Das Management muss demnach in der Lage sein, die verfügbaren Daten für das spezifische Unternehmen und die besondere Situation des Unternehmens zu adaptieren und nutzbar zu machen.
ASSESS: Abwägen des zu erwartenden Ergebnisses in der spezifischen Situation
In der Assess-Phase wird geprüft, welche möglichen Entscheidungen hinsichtlich der konkreten Problemlage aufgrund der verfügbaren, dokumentierten Ergebnisse infrage kommen. Alle potenziellen oder tatsächlichen Veränderungen nach der Implementierung einer Maßnahme werden in dieser Phase dokumentiert.
Dem Vorbild von Kern- und Kontrollgruppen entsprechend, würde bei der kritischen Evaluation von experimentellen Umstrukturierungen in der Unternehmensorganisation langfristig beispielsweise die Produktivität von zwei Abteilungen verglichen. Wurde in einer Abteilung ein Pilotprojekt durchgeführt, während in der zweiten die Abläufe gleich blieben, lässt ein Vergleich Rückschlüsse darauf zu, ob sich die neuen Prozesse eher zu- oder abträglich auf die Produktivität einer Abteilung ausgewirkt haben.
Die faktengestützte Evaluation ist ein wichtiger Bestandteil des evidenzbasierten Vorgehens. Sie erfolgt durch eine formale Protokollierung der Beobachtungen und Ergebnisse, auf deren Grundlage die weiteren Entscheidungsprozesse beruhen. EbM hat daher im Unterschied zu anderen Managementansätzen einen stark prozesshaften Charakter. Die konstante Evaluierung der Maßnahmen macht deutlich, ob eine Entscheidung tatsächlich zu den gewünschten Ergebnissen geführt hat, und dokumentiert positive wie negative Konsequenzen.
4. Anwendungsbeispiel: EbM im Personalbereich
Das evidenzbasierte Personalmanagement erarbeitet HR-Maßnahmen anhand von quantitativen Daten aus den KPIs des Unternehmens. Es nimmt qualitative Analysen zu Wirkzusammenhängen vor, die über die kausale, zeitliche Verknüpfung von Strategien und Resultaten dokumentiert sind. Dabei werden statistische erhobene Kennzahlen – beispielsweise demografische, branchenübergreifende Analysen – mit firmenspezifischen Daten – wie einer Fehlzeitenstatistik – abgeglichen, um valide HR Konzepte zu entwickeln, zu evaluieren und zu optimieren.
Mögliche Anwendungsgebiete für evidenzbasiertes HR Management:
- Personalführung – Führungsstilanalyse: Eignen sich flache Hierarchien, Bottom-up oder Top-down-Entscheidungsverfahren besser für das eigene Unternehmen? Was ist der effizienteste Führungsstil für den Betrieb?
- Mitarbeitermotivation – Wie kann die Mitarbeiterzufriedenheit und –motivation gesteigert werden? Welche Maßnahmen beim Onboarding sind am effektivsten für die Mitarbeiterbindung?
- Anreizsysteme und leistungsorientierte Vergütungssysteme: Mit welchen Mitteln kann effizient extrinsisch motiviert werden, um die Produktivität im Unternehmen zu steigern?
- Teamzusammenstellung und –leistung: Gibt es zuverlässige Teamrollenmodelle, die der Unternehmensleitung helfen, die Leistung eines Teams zu verbessern? Lassen sich durch Diversity-Ansätze (Geschlechterheterogenität, Interdisziplinarität, Altersdiversität) Performancesteigerungen erreichen?
- Recruiting: Welche Rekrutierungsverfahren (Auswahl der Kanäle bei der Stellenausschreibung, Online-Bewerbungsverfahren, Assessment Center, Akzeptanz der eingesetzten Auswahlverfahren) sind besonders geeignet, um langfristig die richtigen
Personalentscheidungen im Unternehmen zu treffen?
5. Herausforderungen und Voraussetzungen des erfolgreichen EbM
EbM stellt hohe Anforderungen an die Expertise und die kognitiv-analytischen Kompetenzen der verantwortlichen Entscheidungsträger. Nicht für jede Thematik liegen bereits wissenschaftlich fundierte Studien und Statistiken vor. Die Verantwortlichen müssen komplexe Forschungsfragen mit vielen Faktoren und Variablen in für das Unternehmen relevante Teilbetrachtungen zerlegen oder sie modellhaft erweitern, um die verfügbaren Daten für das eigene Vorhaben nutzbar zu machen und die theoretischen Erkenntnisse adäquat für die eigene betriebliche Praxis umzusetzen.
Voraussetzung für ein funktionierendes EbM ist die Verfügbarkeit einer ausreichend großen Datenbasis, die eine spezifische Ausgangslage mit relevanten Daten des eigenen Betriebs konsolidiert. Die unternehmenseigene Wissensbasis muss kontinuierlich aktualisiert und Daten standardisiert auf Tages- und Quotenbasis erhoben werden. Eine möglichst breite und kontinuierliche Datenanalyse zu Vorgängen im eigenen Unternehmen (Gesprächs- und Vorgangsprotokolle, Feedback-Systeme, Ticketing, Score Cards zu den wichtigsten relevanten Kennzahlen) ist notwendig. Der Aufbau eines betriebsinternen Controllings und die Dokumentation eigener Business Case Studies sind daher wichtige Schritte bei der Implementierung eines EbM-Ansatzes.
Idealerweise übernimmt ein eigens dafür abgestellter Mitarbeiter („Staff Scholar“) die konsistente Aggregation der Daten in einer zentralen Datenbank und organisiert den Wissenstransfer zwischen allen Beteiligten. Das EbM-Wissensmanagement übernimmt die Recherche nach relevanten, aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, fordert spezielle Gutachten an und kommuniziert die eigene anwendungsorientierte Forschung und ihre Ergebnisse an die Stakeholder.
6. Management ohne moralische Grenzen?
Vertreter des EbM verwehren sich dagegen, die evidenzbasierte Praxis diene dem Zweck, hohen argumentativen Druck auf Mitarbeiter, Kunden oder die Öffentlichkeit auszuüben, um Fragen der ethischen Verantwortlichkeit an den Rand zu drängen.
Tatsächlich verweigert sich das EbM jedweden normativen Aussagen. Evidenz-basiertes Management hat das Ziel, objektiv und wertfrei die Resultate und Methoden der wissenschaftlichen Forschung in den unternehmenseigenen Diskurs einzubringen, um so willkürliche, dogmatische oder autoritär getroffene Entscheidungen zu verhindern.
Die Relevanz ethischer Überlegungen wird nicht prinzipiell ausgeklammert. Ethische Fragestellungen stellen vielmehr im Zusammenhang mit der jeweils gelebten Unternehmenskultur den Rahmen dar, in dem nach einer davon unabhängigen ebM-Analyse mögliche Handlungsempfehlungen ausgesprochen oder Managemententscheidungen getroffen werden.